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Mirage

Der 11. September 2001 hat weltweit eine Zäsur bedeutet und stellt einen Paradigmenwechsel dar. Nach diesem Datum war nichts mehr, wie es einmal war. Die amerikanische Sprechweise des Datums, "9/11", wurde zu einem feststehenden Begriff. Unzählige neue Gesetze und Verordnungen zum Schutz der Staaten und ihrer Bürger wurden in Kraft gesetzt, dem Staat wurden unzählige Befugnisse übertragen, die weitreichender kaum sein könnten. Im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus wurde nur noch zwischen Freunden und Feinden, darunter auch sogenannte "Schurkenstaaten", unterschieden.
Doch wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn die Vorzeichen anders gewesen wäre? Was, wenn der Islam von Christen angegriffen worden wäre? Wie wäre ein Angriff unter solchen veränderten Rahmenbedingungen verlaufen?
Der neue Roman von Matt Ruff, "Mirage", beschäftigt sich genau mit dieser Frage.

In einer Parallelwelt wird Bagdad, die "Stadt des Friedens" und die "Stadt, die niemals schläft", angegriffen. Den zweiten Weltkrieg haben die neu gebildeten Vereinigten Arabischen Staaten gewonnen, die westliche Welt und insbesondere Europa versank in einem selbstzerstörerischen Krieg. Der Staat Israel grenzt an Nordsee, Dänemark und Ostsee, Hauptstadt ist Berlin. Weite Teile Bayerns, Schwabens und des Westrheinlands werden von israelischen Truppen besetzt, die Westgrenze verläuft am Rhein. Deutschland wurde in einen christlichen und einen jüdischen Staat zerschlagen. Im Krieg gegen den Terror sind die Vereinigten Arabischen Staaten die wichtigsten Verbündeten Israels.

Am 9. November 2001entführen christliche Fundamentalisten vier Passagierflugzeuge, von denen zwei in die Tigris- und Euphrat-Türme des Welthandelszentrums gesteuert werden. Ein Flugzeug stürzt auf das Arabische Verteidigungsministerium in Riad. Im vierten Flugzeug verhindern die Passagiere eine weitere Katastrophe und überwältigen die Terroristen; das Flugzeug stürzt in einer nahezu menschenleeren Wüste ab. Die Verantwortung für die Anschläge übernimmt die radikale "Welt-Christen-Allianz" mit Sitz in den Rocky Mountains. Zur Vergeltung wird die amerikanische Stadt Denver angegriffen und eingenommen, die Rocky Mountains werden besetzt. In seiner Rede an die Nation erklärt der Präsident der Vereinigten Arabischen Staaten sogar Amerika, das Vereinigte Königreich und Nordkorea zur Achse des Bösen.
Polizisten und Geheimdienste des arabischen Raums arbeiten rund um die Uhr an der Aufklärung der Anschlag, und dabei auch an der Frage, warum es zu einem solchen Terrorakt gekommen ist. Die Polizisten Mustafa, Hamdan, Samir und Sindbad ermitteln dabei an vorderster Linie.

Was als irre Idee anmutet, ist ein hervorragend recherchierter, sehr spannend und anschaulich geschriebener Roman, der ganz sicher proviziert, aber auch zum Nachdenken anregt. Um die teils sehr komplexen Inhalte in "Mirage" besser verstehen zu können, werden die Erzählkapitel durch fiktive Seiten aus der "Bibiothek von Alexandria" ergänzt. In dieser Art arabischen WikiPedia werden geschichtliche Abrisse aus der Parallelwelt wie auch Redewendungen, Abkürzungen, geographische und politische Gegebenheiten erklärt. Der Leser taucht in eine ganz neue Welt ein, und muss sich erst an die neuen Gegenbenheiten gewöhnen, um der Geschichte folgen zu können.

"Mirage" ist beides, interessantes Gedankenexperiment wie auch spannender Roman, der nicht einfach trockene Fakten reicht, sondern durch die Geschichten rund um die Ermittler an jeder Ecke menschelt, und seine Leser fesselt. Der gebürtige New Yorker Autor Matt Ruff hat schon mit seinen ersten vier Büchern die Literatur-Welt überrascht, in dem er immer wieder Dinge miteinander verknüpft, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, und schafft es auch wieder mit seinem neuesten Werk, in dem er die Welt, wie wir sie kennen, einfach auf den Kopf stellt.
Spannende Unterhaltung ist "Mirage" ganz sicher, die den Horizont seiner Leser öffnet und eine ganz neue Sichtweise auf Politik und Weltgeschichte gibt, und dem "was wäre, wenn"-Spiel neuen Stoff gibt. Gewagt in der Idee, hervorragend in der Umsetzung!

Pascal May